Von Geier und Sturzflug
Aberglaube ist, um es mal ganz diplomatisch auszudrücken: etwas für Vollidioten. Ob eine schwarze Katze von links oder rechts daherkommt, spielt einfach keine Rolle. Kein Freitag, der 13., tut Böses, und kein Glückspulli kann einen vor Unheil schützen. Höchstens vor einer Erkältung. Dies nur zur Klarstellung.
Nun zu uns.
Vor Beginn der vergangenen Saison unserer ersten Tischtennismannschaft begab es sich, dass unser geliebter Abteilungsleiter Reiner Freundorfer einen Geier fotografierte. Er setzte gerade dynamisch zum Flug an (also der Geier, nicht Reiner), genau auf die Kamera zu, und ob man es glaubt oder nicht: Das Foto war gestochen scharf. Ein Traum einer Naturfotografie. Natürlich entstand das Bild nicht auf einem schwindelerregenden Felsvorsprung irgendwo in Nordamerika, sondern bei einer Flugvorführung, aber immerhin: Ich kann mich für so etwas begeistern. Weshalb Reiner, unser aller Chef, mir eine ganze CD mit diesen Bildern brannte. Er schrieb „Pleitegeier“ darauf, übergab sie mir im Training und sagte, völlig ernst gemeint: „Daraus könnte man doch ein Mannschaftsmaskottchen machen.“
Nun habe ich ja eingangs erwähnt, dass ich der Symbolik vermeintlicher Glücks- oder Unglücksboten keinerlei Bedeutung beimesse, sondern unseren sportlichen Erfolg oder Misserfolg eher durch andere, härtere Faktoren zu erklären versuche. Mentale Stärke. Fitness. Geistige Flexibilität. Körperlicher Verfall. Dieses Dings, mit T am Anfang…. na… - ach ja: Training. Wahrscheinlichkeitsrechnung. Alkoholkonsum. Aber ich bin Mannschaftsführer, ich muss also auch für Kollegen mitdenken, die womöglich anfälliger sind für abergläubische Tendenzen. Und unter diesem Aspekt muss man doch sagen: Der Aasgeier wird eher selten als Glücksbringer betrachtet. Wer mal einen Lucky-Luke-Comic in der Hand hatte oder in der Wüste verdurstet ist, weiß, wovon ich spreche. Als Freund klarer Worte habe ich die CD also genommen, freundlich gelächelt, nichts gesagt und sie in meine Trainingstasche gelegt.
Man muss wissen: Diese Tasche ist groß. Handtücher, Schläger, Schuhe, Spielberichtsmappe, Bälle, Trikot, Anzug, ein Paar meiner Glückssocken, Getränke, ein Plüschmaskottchen (Sid, das Faultier), fünf, sechs Ersatzschläger – ich habe die CD monatelang nicht wiedergesehen und völlig vergessen. Wir haben eine grauenhafte Vorrunde gespielt. Abgesehen von Ewald Fischer, unserem Punktegaranten auf Position eins, lief ziemlich wenig, bei mir am allerwenigsten. Bis ich beschloss, Sid zu feuern (ein Geschenk meiner Kinder, die noch an Maskottchen glauben. Aber Sid hatte nun mal nach einigen guten Jahren einen miserablen Job gemacht). Dabei fiel mir auch die Geier-CD wieder in die Hände. Ich habe sie natürlich sofort aus meiner Tasche entfernt. Und was soll ich sagen: Das war zwei Spieltage vor Ende der Vorrunde, wir waren Zehnte und damit Grottenletzte. Und zwei Spiele später waren wir schon Fünfte. Natürlich war das reiner Zufall, was sonst, aber wenn man es nicht ganz genau wüsste…
Es blieb, Geier hin oder her, mal wieder Abstiegskampf bis zum Ende in der 1. Kreisliga. Schlussendlich waren wir Siebte. Im allerletzten Spiel gegen Warngau hat uns Michael Wernz mit seinem allerletzten Satz im allerletzten Match ein Unentschieden gerettet und damit den Klassenerhalt – unser Dauerrivale Warngau ist dann via Relegation abgestiegen. Die zweite Mannschaft hatte es da in der 2. Kreisliga gemütlicher. Zwar ist Kay Apfel wegen einer Knie-OP ausgefallen, und er wird uns auch weiterhin fehlen, weil er danach irgendwie versucht hat, dynamisch wie ein Geier über einen Mountainbike-Lenker zu fliegen, offenbar aber noch an seiner Aerodynamik feilen muss. Nun hat er mal wieder einen eingegipsten Flügel. (Ich hatte seinen selbstzerstörerischen Anwandlungen in einem dieser Vereinshefte mal eine eigene Geschichte gewidmet.) Aber Leo Fleischer, Dominik Schmidt und Moritz Klos haben allesamt positive Bilanzen gespielt. Das reichte zu einem souveränen fünften Platz. Die dritte Mannschaft war in der 3. Kreisliga Vierte – mit einer deutlich negativen Bilanz (was man so auch nicht oft sieht), dafür mit einer immer besser werdenden Tina Freundorfer.
Unsere Jugend ist als Zweite aufgestiegen in die 1.Kreisliga. Besonders Tobias Henseler beeindruckte, indem er im ganzen Jahr nur zwei Einzel verlor (24:2).
Zur neuen Saison haben sich ein paar Kleinigkeiten geändert. Die erste Mannschaft hat sich verstärkt, Wolfgang Hinterdobler kommt aus der 1. Bezirksliga zu uns. Als Nachwuchskraft geht er seit ein paar Jahrzehnten zwar nicht mehr durch, aber von seiner Routine erhoffen wir uns eine Menge. Da sich der Rest der Liga ebenfalls verstärkt hat, geht es trotzdem wieder gegen den Abstieg. Dominik Schmidt rückt in die erste Mannschaft auf, Tobi Beck und Michael Wernz verstärken dafür die zweite. Kay rutscht in die dritte. Ich erwähne das nur der Vollständigkeit halber. An sich ist es ja völlig egal, wo er nicht spielt, Hauptsache er überlebt seine Selbstversuche. Lobend muss man allerdings erwähnen, dass Kay unser treuester Zuschauer geworden ist. Ob im Ganzkörpergips, im Rollstuhl, im mobilen Krankenbett mit Tropf und Schwester – er ist eigentlich bei jedem Heimspiel dabei. Ich habe mich übrigens entschlossen, die Sache mit der Pleitegeier-CD wissenschaftlich zu überprüfen. Ich weiß noch nicht, ob ich sie heimlich einem Spieler der zweiten, der dritten, oder der Jugendmannschaft in die Tasche stecke, aber dann werde ich sehr genau überprüfen, wie diese Mannschaft fortan spielt. Vielleicht werde ich euch das in einem Jahr berichten.
Andreas Liebmann, Juli 2017